Dienstag, 16. Mai 2017

Versöhnung



Gute Nachricht Teil 1

Das Radio sagt, die alpinen Gletscher schmelzen.
Endlich. Ich erhebe mich.
Die bereits entkleideten Berge erzittern. Sie wissen, ohne die eisige Umklammerung der Gletscher werden sie bröckeln. Ihr Fieber steigt.
Die Berge werden fallen. Bald ist es soweit. Ich stehe bereit.
Wind und Wasser züngeln zu meinen Seiten.

Die Berge erbeben. Gipfelkreuze und Kletterhaken rutschen von den Flanken mit metallischem Ton. Steige und Schneekanonen poltern über graslose Skihänge nach unten ins Tal.
Die Berge stöhnen.
Steinlawinen reißen ihnen tiefe Wunden. Goldadern platzen auf. Bergkristalle vermahlen die Knochen der Murmeltiere mit den Hörnern der Gämsen.
Muren fliehen bei der nächsten Erschütterung gemeinsam mit Almen und Bergwald zu den Dörfern und Betten der Flüsse im Grund.
In den Labyrinthen der Höhlen quetschen aufeinander gepresste Tropfsteine die letzten unterirdischen Seen aus dem Gestein.
Endlich zwingt anhaltender Schüttelfrost die Berge zu Boden. Sobald ihre Stirnen die Becken der Wasserfälle berühren, platzen sie auf. Blut flutet durch Wasseradern in Hohlräume und Stollen. Es dringt in jede Spalte bis in die feinsten Verästelungen vor. Tief, bis in die Herzen aus Erz, frisst sich der Virus der Auflösung.
Am längsten widerstehen die Füße. Verwurzelt in der Schwärze des Urgrunds und durchströmt von roter Glut, halten sie aus.

Bis ich das eisblaue Wasser loslasse.
Brüllend löscht es das letzte Pulsieren in einer grauen Wolke aus Pulver und Dampf. Krachend zerfallen die Sockel zu Trümmern.
Da springt auf mein Geheiß der Wind nach vorn und fegt über die letzten Fundamente. Staub stiebt in alle Richtungen.
Als der Wind sich wieder neben mich gelegt und das Wasser als Gewitterregen die Luft gereinigt hat, umgeben mich Geröllhalden. Nichts ist mehr übrig von den jahrtausendealten Erhabenen. Einige Schritte entfernt leuchten im Schutt die Farben bunter Gebetsfahnen auf.

Ich weiß, du hast die Berge geliebt, mein Sohn. Aber ich konnte sie nicht mehr ertragen.



Gute Nachricht Teil 2

Hier bin ich. Da ist der See. Und dort sind die Berge.
Mit großen Füßen stehen sie unverrückbar in den Wiesen aus Hahnenfuß und Pusteblumen.
Weiß leuchtet der Schnee auf ihren Körpern wie das weiße T-Shirt, in dem mein Sohn mir im Traum erscheint.
Ihre scharfen Umrisse schreiben Linien in den Abendhimmel, Botschaften für mich, die ich zu entziffern versuche.
Da wird es ruhig in mir. Die Berge sind mir nah. Mein Sohn hat sie mit seinen Händen berührt. Tag für Tag streicht er als Wolke über ihr Gestein. Ein Hauch aus Nebel steigt auf, um mich daran zu erinnern, wie zart seine Haut war. Feine Regenfäden über fernen Gipfeln erzeugen in mir Fäden aus Liebe, die sich in alle Richtungen ausbreiten.
Die Dunkelheit kommt. Sie füllt die Schluchten mit Fledermäusen. Eine davon zeigt mir den Weg zum See. Ich tauche meine Hand ins Wasser und fühle, die Berge, mein Sohn und ich, wir sind verbunden.
Danke!




©Barbara Biegel