Donnerstag, 24. November 2016

Rotgoldene Frucht der Lampionblume



In den Fenstern der Friedhofshalle spiegeln sich kalt die Scheinwerferpunkte des morgendlichen Verkehrs. Vor mir am Tisch leuchtet warm dein kleines Haus. Über Rippen spannt sich die papierne Hülle. Darunter verbirgt sich das orangefarbene Geheimnis meiner Sehnsucht. Rund und weich bringt es giftigen Tod.

Donnerstag, 17. November 2016

Das Segelschiff











Eine Mutter reiste in die Stadt am großen Fluss. Schon mehr als tausend Jahre fuhren Schiffe von dort auf die Meere der Welt.
Der Sohn der Frau, der bis jetzt überlebt hatte, während andere von Bergen gestürzt oder mit Autos gegen Begrenzungen geprallt waren, wohnte im Hafen auf einem Schiff mit Segeln. Umgeben von Kränen und Frachtern lag es an dem Ufer vertäut, das im Namen einen Vogel und die Zukunftsform von Sein trug. Von dort aus sah man auf die Brandung der Häuserwogen und die Gischt der Schornsteine.
Die schmalen Kojen unter Deck warteten seit einer Handvoll Winter auf Schlafende, doch am Schiff wurde einiges erneuert und die Zimmerleute ließen sich Zeit.
Die Frau kam abends an und freute sich, ihren Sohn zu sehen. Sie umarmten einander und er bot ihr für die Nacht eine der Kojen an, doch im Bauch des Schiffes war es eng und ohne Lichtquelle, weshalb sie es vorzog, im sogenannten oberen Salon zu bleiben. Sie ging zu Bett und fühlte ihr Inneres unrhythmisch schaukeln wie ein Korken im Wasser des Hafenbeckens. Das unaufhörliche Be- und Entladen der Containerschiffe bewegte das Schiff auf spitzen Wellenkämmen hin und her. Feuchte Kälte kroch in ihren Schlafsack, so dass sie lange wach lag, trotz Mütze aus Fleece und Wollsocken.
Am Tag ging sie schwankend, vor Müdigkeit und wegen des Gefühls von Ebbe und Flut. Nie Gehörtes wie die Rufe der Möwen, die Sirenen der Schiffe, die Lautsprecher der Barkassen, die fremden Sprachen vermischten sich mit dem Lachen ihres Sohnes und dem Bild von seinem ausgestreckten Arm auf Graffitis und Weiden am Strand.
Die mit ihm geteilte Zeit nutzten ihre Kleidungsstücke, den besonderen Geruch anzunehmen, der ihr, als sie längst wieder zu Hause war, noch Geschichten von Wasser und Hafen und vom Leben ihres Sohns erzählte.

Dienstag, 15. November 2016

Ein Film in der Reihe ‚Unter unserem Himmel‘ über Meerrettichanbau in Franken (von H. Bechert)









Der Film beginnt und ich finde mich in meiner Heimat wieder.
Die Leute sagen ‚Kren‘. Jemand spricht von ‚Tafelspitz‘, gleichermaßen ein Rätselwort, beladen mit zwei Bildern. In mir steigen Erinnerungen auf an den besonderen, nicht alltäglichen Geschmack, die manchmal unerwartete Schärfe und die weiße, leicht flockige Konsistenz. Als käme sie aus einer anderen Welt von jenseits des Meeres, unterschied sich diese Soße von den üblichen braunen, mehr oder weniger sämigen Flüssigkeiten zu Kloß und Fleisch.
Mir Kind schien die Meerrettichsoße etwas Edles zu sein, ein Essen für Könige vielleicht. Sie saßen an langen Tafeln, neben sich ihren Spitz, trugen den Hermelinmantel als Zeichen der Macht und tauchten silberne Löffel in den weißen Schaum.
Die Bauern, die in der Verbundenheit mit ihrer Landschaft gezeigt werden und zu Wort kommen, sind die Weisen des Reichs. Seit langer Zeit haben sie alle Geheimnisse um die Pflanze gesammelt, aufbewahrt und von Generation zu Generation weitergegeben. Woher sie einst gekommen ist, wissen sie nicht. Einer ihrer Namen erzählt vom Meer. Sie leben mit ihr und dem Auftrag, sie veredelt erneut in alle Welt zu verbreiten. Sie sind im Besitz der notwendigen Böden, nicht zu trocken und durchlässig. Im Frühjahr legen sie die schmalen Stangen in die Erde und sehen bis zur Ernte ab Herbst einmal wöchentlich danach. Sie graben den Blattansatz aus und entfernen neue Triebe, damit die Kraft in die Wurzel gehen kann. Zur Erntezeit stehen sie auf dem Feld mit stiller Freude über die wiederkehrenden Wunder der Natur. Wieder und wieder bücken sie sich über die langen Reihen in einer nicht endenden Verbeugung. Die beladenen Anhänger füllen die Scheunen voller Haufen schwarzen, zottigen Gewirrs. Davor, in Licht und Luft an der Grenze zur Lagerstätte des dunklen Wesens im Inneren, sitzen auf Stühlen Männer und Frauen und legen mit Schabemessern die helle Haut des Meerrettichs frei. Bei jeder Mahlzeit nehmen sie Teile der Pflanze zu sich und danken ihr für die heilkräftige Wirkung. Zum Reiben allerdings, wenn es in großem Rahmen geschieht, ziehen sie Gasmasken über die ruhigen Gesichter, um ihre Tränen für andere Ereignisse aufzubewahren.